Innovation
29.06.2022
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Nachhaltige Mobilität basiert auf emissionsarmer Energie: Der Beitrag lignozellulosehaltiger Abfälle und Reststoffe

Markus Rarbach

 

Eines der stärksten Mittel im Kampf gegen den Klimawandel ist allgegenwärtig, aber für die meisten von uns ist es nicht als solches zu erkennen. Die Rede ist von Lignozellulose, einem Biopolymer, das aus Zellulose, Hemizellulose und Lignin besteht. Es handelt sich dabei um den Hauptbestandteil aller Pflanzen. Indem wir Abfälle und Reststoffe dieser Pflanzen in Energie umwandeln, zum Beispiel in Form von Biokraftstoffen, können wir unsere Abhängigkeit von fossilen Kraftstoffen verringern. Noch haben wir das Potenzial von Lignozellulose nicht vollständig erschlossen. Doch wissen wir bereits jetzt, dass sie in der Lage ist, einen wesentlichen Beitrag auf unserem Weg zur Klimaneutralität und Energiesicherheit im Verkehrssektor zu leisten.

 

Warum hat der Verkehr einen so hohen Stellenwert?

Verkehr ist für Menschen in allen Teilen der Welt von existenzieller Bedeutung. Wir sind sowohl in sozialer und kultureller als auch in wirtschaftlicher Hinsicht auf ihn angewiesen, etwa um die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen sicherzustellen, Aus- und Weiterbildung zu ermöglichen und auch, um unsere persönliche Mobilität zu gewährleisten. Der Verkehrssektor ist aber auch der Wirtschaftssektor, der für den größten Anteil an den globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich ist, denn er verursacht etwa 24 % der gesamten Emissionen weltweit

 

Trotz eines wachsenden Bewusstseins für diese Tatsache - und trotz aller Bestrebungen, den Kohlenstoffausstoß durch Biokraftstoffe und andere Technologien zu verringern-  steigt die Nachfrage nach Mobilität und führt zu einer Zunahme der Emissionen. Im Gegensatz dazu gelingt es anderen wichtigen Sektoren, darunter der Energieversorgung und der Industrie, ihre THG-Emissionen insgesamt zu stabilisieren oder sogar zu senken. Von der Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius gemäß dem Pariser Abkommen bis zur angestrebten Klimaneutralität in der EU bis zum Jahr 2050: der Verkehrssektor stellt nach wie vor die größte Herausforderung dar, wenn es um das Erreichen unserer Nachhaltigkeitsziele geht. 

 

Welche Rolle spielt hierbei die Lignozellulose?

 

Eine wirksame Verringerung der Verkehrsemissionen erfordert eine ganze Reihe von Lösungen und Veränderungen, die neben technologischen Innovationen auch die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie unser Verhalten umfassen. Viele solcher Lösungen sind bereits verfügbar und im Einsatz – nur leider nicht in dem Maße, wie es für eine ausreichende Senkung der Emissionen erforderlich wäre. So verursachen Elektrofahrzeuge geringere Nettoemissionen als mit fossilen Kraftstoffen betriebene Fahrzeuge und erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Um das Emissionsproblem im Verkehrssektor allein damit zu lösen, müsste die Elektrifizierung jedoch in einem Tempo vorangetrieben werden, das angesichts der Herausforderungen im Zusammenhang mit der Infrastruktur, der Produktion und der Lebensdauer der Fahrzeuge nahezu unmöglich ist - und selbst dann würden noch immer nicht alle Verkehrsträger, Märkte und Kunden erreicht. Andere Strategien, wie die Steigerung der Effizienz bestehender Verkehrsnetze sind ebenfalls vielversprechend, stoßen aber gleichermaßen an Grenzen. Innovationen und ihre Umsetzung benötigen ausreichend Zeit. 

 

Doch leider ist die Zeit nicht auf unserer Seite. Was wir jetzt brauchen, sind weitere Lösungen zur Emissionsreduzierung, die synergetisch ineinandergreifen – Lösungen, die sowohl ein kurzfristige Wirkung haben und gleichzeitig längerfristige Strategien ergänzen können. Hierzu müssen solche Lösungen mit den derzeitigen Fahrzeugen und der bestehenden Infrastruktur kompatibel sein und die Märkte versorgen, die nur schwer zu elektrifizieren sind. Eine geeignete Lösung sind erneuerbare Kraftstoffe, d. h. Kraftstoffe, die aus nachwachsenden  Rohstoffen hergestellt werden. Unter den vielen verwertbaren Rohstoffen ist dabei die Lignozellulose das am häufigsten vorkommende Material. 

 

Obwohl es mehr als nur einen Ansatz zur Nutzung von Lignozellulose gibt, ist die Verwendung von Lignozellulose-Reststoffen, d. h. von Abfällen und Reststoffen aus gewerblichen und industriellen Prozessen wie der Land- und Forstwirtschaft und der Lebensmittelproduktion, die nachhaltigste Lösung. Bei der Herstellung von Holz und Papier beispielsweise fallen pflanzliche Abfälle an, die manchmal nur ineffizient oder gar nicht genutzt werden. Dasselbe gilt für Reststoffe aus der Forst- und Landwirtschaft. Diese Abfallströme, die in den jeweiligen Branchen oft als geringwertige Reststoffe gelten, stellen jedoch eine sehr wertvolle Ressource für andere Anwendungen dar, z. B. für Biokraftstoffe. Entscheidend dabei ist, dass die Ressource Lignozellulose in einer Größenordnung von mehreren Milliarden von Tonnen pro Jahr verfügbar ist. 

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass lignozellulosehaltige Abfälle und Reststoffe wichtige und leicht verfügbare Rohstoffe für die Herstellung erneuerbarer Kraftstoffe sind. Diese erneuerbaren Kraftstoffe können eine kurzfristige und deutliche Verringerung der Emissionen im Verkehrssektor bewirken. Eine Voraussetzung, die für das Erreichen der Klimaziele entscheidend ist.  

 

Warum erst jetzt?

 

Wenn Lignozellulose eine so bedeutende Ressource ist, warum war sie dann nicht schon immer Teil der Klimadiskussion? Tatsächlich ist sie das schon seit langem, zumindest unter Wissenschaftlern, Energieversorgern und großen Kraftstoffverbrauchern. Ihre Entwicklung zu einem Rohstoff für die Kraftstoffherstellung hat jedoch Zeit und erhebliche Anstrengungen gekostet. Vor allem wurde die Möglichkeit, Lignozellulose als Rohstoff für fortschrittliche Kraftstoffe zu nutzen, bisher durch die Verfügbarkeit und technische Reife der Konversionstechnologie selbst eingeschränkt.

 

Um Lignozellulose in Kraftstoff umzuwandeln, muss das Polymer aufgespalten und die darin enthaltenen Verbindungen extrahiert werden. Dies ist eine schwierige Aufgabe, da Lignozellulose von Natur aus eine hohe Widerstandsfähigkeit und eine feste Struktur besitzt, die schwer zu durchbrechen ist und die wertvolle Verbindungen in der größeren Struktur einschließt – eine Eigenschaft, die als Rekalzitranz bezeichnet wird. Auch ohne den Fachbegriff zu kennen, ist uns die Rekalzitranz bestens vertraut – sie ist die wesentliche Eigenschaft, die es Bäumen ermöglicht, in große Höhen zu wachsen und sogar Jahrtausende zu überdauern. Mehr als ein Jahrhundert hat es gedauert, bis es Wissenschaftlern und Ingenieuren gelungen ist, diese Herausforderung durch die Entwicklung zuverlässiger, effizienter und kosteneffektiver Methoden zu meistern. Und auch heute noch wird weiter daran geforscht, um neue Verfahren zu entwickeln oder die bestehenden zu verbessern.

 

Da viele dieser Materialien – z. B. Abfälle und Reststoffe aus der Land- und Forstwirtschaft – bisher nicht industriell genutzt wurden, mussten zudem völlig neue Lieferketten, Geschäftsmodelle und Partnerschaften aufgebaut werden. Um den Weg zur Nachhaltigkeit zu unterstützen, musste jeder Aspekt dieser neuen Wertschöpfungskette sorgfältig geplant und umgesetzt werden.

 

Wie sieht die aktuelle Perspektive für Lignozellulose aus? 

 

In den letzten Jahrzehnten wurden viele neue Quellen lignozellulosehaltiger Biomasse als potenzielle Rohstoffe für erneuerbare Kraftstoffe identifiziert. Im gleichen Zeitraum hat sich die Konversionstechnologie erheblich weiterentwickelt. Es werden immer mehr Partnerschaften zwischen Industrie, dem öffentlichen Sektor und Hochschulen geschlossen, um Forschungsergebnisse in Innovationen umzusetzen, etwa die schwedische Treesearch-Plattform und das kanadische Projekt Bioénergie La Tuque. Dies alles trägt dazu bei, dass die Herausforderungen im Zusammenhang mit einer breiten Anwendung von lignozellulosehaltigen Abfällen und Reststoffen bald überwunden werden könnten. 

 

Darüber hinaus haben sich weitere positive externe Effekte von Lignozellulose-Anwendungen gezeigt. So kann etwa nach der Holzernte ein Übermaß and Reststoffen die Regeneration der Wälder behindern, wenn sie in großen Mengen vor Ort verbleiben. Wird ein Teil dieser Reststoffe aber beseitigt, kann dies die Kohlenstoffbindung im Wald beschleunigen und ein Gegengewicht zu den Auswirkungen der Holzernte bilden. 

 

Mit der weiteren Entwicklung der Technologien und bei weiter steigender Nachfrage nach Mobilität, wird sich zeigen, wie Biokraftstoffe auf Basis von Lignozellulose die Nachfrage des Verkehrssektors nach Erdöl verringern können. Da pflanzliche Biomasse in erster Linie aus Lignozellulose besteht und somit in sehr großen Mengen über forst- und landwirtschaftliche Abfälle und Reststoffe zur Verfügung steht, geht man davon aus, dass Lignozellulose 200-400 Millionen Tonnen Erdöl  jährlich ersetzen kann. Dies entspricht etwa 5 % des gesamten Erdölverbrauchs. Vor dem Hintergrund steigender CO2-Emissionen im Verkehrssektor sollte man den Beitrag von Kraftstoffen, die auf der Basis von lignozellulosehaltigen Abfällen und Reststoffen hergestellt werden und andere Lösungen zur Dekarbonisierung ergänzen können, keinesfalls unterschätzen. Mit anderen Worten: Um die CO2-Emissionen im Verkehrssektor zu verringern, müssen verschiedene Ansätze kombiniert werden, wobei fortschrittliche Biokraftstoffe einen wichtigen Teil der Lösung darstellen. 

 

Regierungen und politischen Entscheidungsträgern kommt dabei in zweierlei Hinsicht eine wichtige Rolle zu: Erstens müssen sie weiterhin klare und ehrgeizige Nachhaltigkeitsziele festlegen. Ohne einen stabilen regulatorischen Rahmen werden Investoren und Energieerzeuger vor langfristigen innovativen Projekten zurückschrecken. Zweitens müssen die rechtliche Rahmenbedingungen weiter entwickelt und umgesetzt werden, die eine nachhaltige Nutzung von Biomasseabfällen und -reststoffen nachhaltig fördern. Nur so sind die Ziele im Verkehrssektor zu erreichen.  

 

Die Erwartungen, die daran geknüpft sind, dass Lignozellulosen bei der kontinuierlichen Verbesserung der Nachhaltigkeit einen wertvollen Beitrag leisten, sind hoch. Und die einzelnen Elemente der Lösung beginnen sich zu einem großen Ganzen zusammenzufügen. Wenn wir weiterhin in praktische Maßnahmen investieren, werden wir in naher Zukunft feststellen, dass Mutter Erde eine der Lösungen zur Bekämpfung des Klimawandels direkt vor unserer Nase bereithält.