Kunststoffe
15.12.2023

Plastikmüll-„Brüder“: inwieweit das mechanische und chemische Recycling zwei Seiten derselben Medaille sind

Das Plastikmüllproblem verschwindet nicht von allein. Stagnierende Recyclingquoten führen uns vor Augen, dass wir nicht sehr weit kommen werden, wenn wir nicht etwas verändern. Neue Lösungen sind dringend erforderlich, wenn wir nicht wegen eines schlechten Abfallmanagements im Müll ertrinken möchten. Um die heute vorhandenen Einschränkungen und Möglichkeiten des Recyclings sichtbar zu machen, verfolgen wir den Lebensweg von zwei ungleichen Geschwistern: Bob und Barney, die Plastik-Brüder.

Wir produzieren Plastikmüll. In großen Mengen. 2019 wurden weltweit rund 353 Millionen Tonnen produziert. Und unsere Nachfrage nach Plastik ist noch nicht befriedigt. Diese Zahl wird bis zum Jahr 2060 schätzungsweise auf eine Billion Tonnen steigen. Jedes. Einzelne. Jahr. 

Die gute Nachricht lautet: Plastik kann recycelt werden. Zumindest in der Theorie. Die schlechte Nachricht ist, dass wir dies nicht in ausreichendem Maß tun. Gerade einmal 10 % des weltweiten Plastikmülls werden letztendlich recycelt. 90 % nicht. Warum nur 10 %? Eine einfache Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt. 

Lassen Sie es uns versuchen und verfolgen wir hierzu das Leben zweier sich ähnelnder, aber ungleicher Geschwister. Bob die Flasche und Barney der Beutel. Bob ist eine Shampoo-Flasche, die aus hochdichtem Polyethylen, einem weit verbreiteten Kunststoff, hergestellt wurde. Sein Bruder Barney ist ein kleiner Mozzarella-Beutel, der aus mehreren Schichten Polyethylen und Polyamid hergestellt wurde, wie sie oft in Lebensmittelverpackungen zu finden sind.

Bob und Barney hatten ein erfülltes Leben: in Ihrem Badezimmer, wo Bob den Duft Ihres Lieblingsshampoos bewahrte. In Ihrem Kühlschrank, wo Barney den Käse frisch hielt und Ihnen eine eiweißreiche Mahlzeit bescherte. Jetzt, wo der letzte Tropfen Shampoo aufgebraucht ist und sich der ganze Mozzarella in Ihrem Magen befindet, geht das Abenteuer von Bob und Barney zu Ende. Was noch fehlt ist, dass sie in die ewigen Jagdgründe der Plastikverpackungen eingehen. Hier ist ihre Geschichte.

Nur gesammelter Abfall kann recycelt werden

Damit Plastikmüll recycelt werden kann, muss er gesammelt werden. Bob und Barney sind nicht so kompliziert, also wie schwer kann das schon sein, oder? Falsch. Während die Sammelinfrastruktur in bestimmten Regionen entwickelt ist, z. B. in Europa, ist dies nicht überall der Fall. Nur rund 14 Prozent des Plastikmülls werden tatsächlich zum Recycling gesammelt. Der meiste Müll landet auf Deponien, wird verbrannt oder unsachgemäß entsorgt bzw. behandelt. Während Bob und Barney gerne im Meer schwimmen oder sich in einem Wald ausruhen würden, ist dies nicht der Ort für solch verdiente Personen, um ihren Lebensabend zu verbringen … abgesehen davon, dass es ein ökologischer Albtraum ist.

Die Sammlung ist jedoch nicht alles. Bob und Barney einzusammeln, ist vielleicht das eine, sie zu recyceln, ist das andere. Hierfür bedarf es der entsprechenden Infrastruktur und Anlagen. Dreimal dürfen Sie raten: Diese sind nicht vorhanden und in manchen Teilen der Welt noch nicht einmal entwickelt. Deshalb landet die Hälfte des gesammelten Plastikmülls letzten Endes möglicherweise doch noch auf der Deponie oder in der Verbrennung.

Plastikmüll ist nicht gleich Plastikmüll

Was die Herausforderung noch größer macht: Plastikmüll ist ein weit gefasster Begriff. Während Bob und Barney zweifellos aus Plastik sind, so haben sie dennoch unterschiedliche Eigenschaften und Merkmale. Bob ist eine geriffelte feste Flasche, während Barney ... na ja, halt ein Beutel ist (ist nicht persönlich gemeint, Barney). Sie haben unterschiedliche Formen und Größen, und auch ihre Farben sind anders. Während Bob einfarbig ist, wurde Barney mit leuchtenden Farben bedruckt, die für die Qualitäten des Käses werben. Und schließlich wurde Barney aus mehreren Materialien hergestellt, während für Bob nur ein Material verwendet wurde. 

Alle diese Unterschiede führen dazu, dass ein Abfall eher leicht zu recyceln ist, während der andere Abfall dies nicht ist. So ist beispielsweise eine PET-Flasche, wie sie für das Abfüllen unserer Softdrinks verwendet wird, ein Artikel aus Kunststoff, der relativ leicht recycelt werden kann. Als Daumenregel gilt: Je weniger Materialien bei der Herstellung verwendet wurden und je sauberer der Plastikmüll ist, desto leichter ist er zu recyceln. 

Das Leben ist eine Achterbahnfahrt – das gilt auch für Plastikmüll

Aber sehen wir uns mal an, wie es Bob und Barney ergeht. Nehmen wir an, dass Sie als Musterbürger Ihren Müll getrennt und beide in einem Container für Kunststoffabfälle entsorgt haben. 
Zusammen mit anderen Kunststoffartikeln werden sie zu einer Sortieranlage transportiert und steigen dort in eine Achterbahn ein: Es geht über mehrere Förderbänder und verschiedene Abfallarten werden voneinander getrennt. Die Sortieranlage nutzt hierzu viele verschiedene Verfahren: Kunststofffolien werden über ein Vakuum entfernt, eine Siebtrommel sortiert die Teile nach ihrer Größe und in einem Windkanal werden die Materialien aufgrund ihres Gewichts voneinander getrennt. Magnete entfernen Schrauben oder andere Metallteile, die am falschen Ort gelandet sind. Als Letztes identifizieren Scanner die Artikel, um einzelne Teile gezielt auszusortieren. Schlussendlich verabschieden sich unsere Brüder und werden getrennt.

Bist Du das Bob? 

Bob, die Shampoo-Flasche, befindet sich jetzt in der Gesellschaft anderer bunter Flaschen und Artikel. Sie werden zu Ballen verpresst, um das Volumen zu verringern und zu einer mechanischen Recyclinganlage transportiert. Dort wird der Abfall eventuell ein weiteres Mal sortiert, ehe er in kleine Stücke zerkleinert wird. Nach einer ausgiebigen Dusche und gründlichen Trocknung gelangen diese in einen Extruder. Im Extruder werden sie unter Druck und bei einer bestimmten Temperatur eingeschmolzen und zu Kunststoffrezyklaten in Pelletform verarbeitet. Aus diesen können neue Kunststoffartikel hergestellt werden. 

Können Sie Bob erkennen? Zerkleinerter Plastikmüll

Können Sie Bob erkennen? Zerkleinerter Plastikmüll

Obwohl durch die Dusche von Bob einige unerwünschte Stoffe entfernt werden können, kann das Rezyklat möglicherweise immer noch Verunreinigungen enthalten. Deshalb stößt mechanisch recyceltes Material bei hohen Anforderungen an die Produktreinheit an seine Grenzen; eine solche Reinheit ist z. B. bei Verpackungen mit Lebensmittelkontakt und medizinischen Anwendungen unerlässlich. Sie möchten vielleicht Bob oder das, was noch von ihm übrig ist, nicht dazu benutzen, um Ihr Sandwich einzupacken oder eine Blutspende aufzubewahren. Es gibt jedoch Anwendungen, für die Bob geeignet ist: Parkbänke sind ein typisches Beispiel oder auch Kunststoffrohre und Plastikeimer.

Mechanisches Recycling ist eine großartige Methode, um sicherzustellen, dass die Produkte für Anwendungen mit geringeren Anforderungen an das Material nicht aus neuen Kunststoffen hergestellt werden müssen. Wenn Sie also das nächste Mal eine Pause auf einer Parkbank einlegen, könnte das Bob sein, der sein zweites Leben genießt und an den Sie Ihren Rücken anlehnen können. Bob, du bist ein Glückspilz!

Jeder mag Käse, keiner die Verpackung

Wo ist denn jetzt Barney hin? Richtig, wir sind zurück in der Sortieranlage. Barney der Beutel hatte nicht so viel Glück wie Bob. Das Material, aus dem Barney besteht, lässt sich nicht mechanisch recyceln. Die farbige Bedruckung und die Verwendung mehrerer Materialien sorgen dafür, dass Barney in dieser Hinsicht unbeliebt ist. 

Jeder Versuch, Barney mechanisch zu recyceln, würde in einem Gemisch aus verschiedenen, nicht zu unterscheidenden Kunststoffen enden. Das Resultat: schlechte Qualität. Barney ist das, was wir normalerweise als „schwer recycelbar“ bezeichnen. Er wird daher als normaler Abfall behandelt. Unter Umständen landet er auf der Deponie oder in der Verbrennung. Auf der Deponie wird Barney sich langsam zersetzen und hierbei seinen Kohlenstoff als CO2 an die Atmosphäre abgeben. Bei der Verbrennung wird dieser Prozess beschleunigt: Das CO2 wird schnell freigesetzt, erhöht die CO2-Konzentration in der Atmosphäre und dient dennoch der Erzeugung von Energie. In beiden Fällen gibt es kein zweites Leben für den Beutel. Barney, du armer Kerl! 

Hoffnung für Barney!

Um dies zu ändern, muss eine Lösung jenseits der bestehenden Recyclingverfahren gesucht werden. Und hier kommt das chemische Recycling ins Spiel. Tatsächlich ist Barney ein idealer Kandidat für diese Technologie, die einen Schritt weiter als das mechanische Recycling geht: Der Kunststoff wird in seine Grundbausteine zerlegt, die dann wieder zu einem Material zusammengesetzt werden können, das dem von Kunststoff ähnelt, das frisch aus dem Ofen kommt. Denken Sie, dass „Ofen“ eine schlechte Wortwahl ist? Absolut nicht!

Um sich das chemische Recycling bildlich vorzustellen, denken wir an altes Brot. Wenn Brot alt und fest wird, gibt es großartige Rezepte, um es lecker zu verwerten. Bei einem Rezept wird es in kleine Stücke geschnitten und mit geschmolzenem Käse überbacken. Herzlichen Glückwunsch, Sie haben soeben Brot mechanisch recycelt. Chemisches Recycling hingegen verwandelt das Brot in Mehl, Hefe und Wasser - und in das, was der Bäcker sonst noch so beim Backen verwendet hat. Mit diesen Bestandteilen können wir dann ein neues Brot backen. 

Heißt das, dass Barney wieder ein Mozzarella-Beutel werden kann? Tatsächlich kann chemisches Recycling dazu beitragen, dass Barney fast alles werden kann, da wir Inhaltsstoffe entfernen oder hinzufügen können. Wir können aus dem Brot einen Kuchen machen. Oder in Barneys Welt könnte Barney ein Plastikbeutel, eine Flasche oder eine Sushi-Box werden. Letzteres ist besonders bemerkenswert: Da beim chemischen Recycling Verunreinigungen entfernt und reine Fraktionen für die Produktion von Kunststoffen in Neuware-Qualität gewonnen werden können, ermöglicht es auch die Herstellung von Produkten für sensible Anwendungen wie Verpackungen mit Lebensmittelkontakt. 

Zurück zu Barneys Wurzeln

Also, wie funktioniert das? Es gibt mehrere Ansätze für chemisches Recycling. Um zu sehen, was mit Barney im chemischen Recycling passiert wäre, schauen wir uns den Ansatz an, den Neste verfolgt. Hierfür kehren wir zurück zu der Sortieranlage, wo Barney in dem Container mit den anderen schwer recycelbaren Kunststoffen gelandet ist. Anstatt zur Deponie oder in die Verbrennung werden diese nun zu einer Verflüssigungsanlage transportiert. Eine der Möglichkeiten zur Verflüssigung von Kunststoffabfall ist die Pyrolyse. Hierbei wird der Kunststoff bei hohen Temperaturen und ohne Sauerstoff in seine Bestandteile aufgespalten. 

Porvoo refinery

Neste-Raffinerie in Porvoo (Finnland) Hier will das Unternehmen verflüssigte Kunststoffabfälle zu hochwertigen Rohstoffen für Kunststoffe verarbeiten.

Der verflüssigte Barney – der jetzt Rohöl ähnelt, dem am häufigsten verwendeten Rohstoff für Kunststoffe – wird zur Raffinerie von Neste in Porvoo transportiert. Da der verflüssigte Kunststoffabfall immer noch Verunreinigungen aus seiner Kunststoff-Vergangenheit wie Stickstoff enthalten kann, durchläuft er hier mehrere Verarbeitungsschritte: Vorbehandlung, Aufwertung und Veredelung. Während der Vorbehandlung und Aufwertung werden unerwünschte chemische Verbindungen und Verunreinigungen entfernt. In diesem Stadium kann alles, was kein Kohlenstoff oder Wasserstoff ist, als Verunreinigung angesehen werden. Im Veredelungsschritt wird das Material zu einem hochwertigen Rohstoff für Neukunststoffe verarbeitet – genauso wie fossiles Rohöl. 

Barney hat es jetzt fast geschafft. Er besteht jetzt aus reinen Kohlenwasserstoffen, die auf ihrem Weg in die Freiheit sind. Sein nächster Weg führt ihn in einen Steamcracker, wo er beispielsweise in Propylen oder Ethylen umgewandelt wird, bevor er zu Polypropylen oder Polyethylen polymerisiert wird. Barneys zweites Leben hat begonnen und der Kunststoffkreislauf wurde geschlossen. Wie bei seinem Bruder Bob wurde eine sinnvolle neue Verwendung für Barney gefunden – und das könnte immer wieder geschehen. 

Die Aussicht auf eine Kreislaufwirtschaft

Die Geschichte von Bob und Barney zeigt uns, warum für eine Kreislaufwirtschaft beide Technologien benötigt werden: mechanisches und chemisches Recycling. Ohne das mechanische Recycling würden wir die Gelegenheit verpassen, Materialien zu recyceln, die wie Bob und seinesgleichen leicht zu recyceln sind. Um Materialien wie dem mehrschichtigen und bunten Barney eine Perspektive zu bieten, brauchen wir das chemische Recycling. 

Sie sind Teile desselben Puzzles und wenn eins fehlt, ist das Puzzle unvollständig. Darüber hinaus sind die ordnungsgemäße Abfallbewirtschaftung und -sammlung sowie ein nachhaltiges Produktdesign die Voraussetzungen für eine Kreislaufwirtschaft: Indem wir bei der Produktentwicklung das Recycling berücksichtigen, können wir sicherstellen, dass Materialien einfacher zu recyceln sind und den Abfall reduzieren, der auf Deponien oder in Verbrennungsanlagen landet. 

Bedeutet das, dass Barney der Beutel nur ein mangelhaftes Design ist? Warum wird nicht nur ein einziges Material verwendet? Die Antwort lautet, dass insbesondere bei Lebensmittelverpackungen verschiedene Materialien aus guten Gründen eingesetzt werden. Mit der Möglichkeit des chemischen Recyclings können wir jedoch sicherstellen, dass Lebensmittel sicher aufbewahrt und die Verpackungen trotzdem recycelt werden können. 

Durch den kombinierten Einsatz von mechanischem und chemischem Recycling wird eine Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe möglich. Tatsächlich kann chemisches Recycling auch dazu beitragen, aus Rezyklaten hergestellte Artikel aufzuwerten. Wenn Sie also das nächste Mal diese Website besuchen, sehen Sie vielleicht die Geschichte von Paul der Parkbank, die wieder eine Shampoo-Flasche sein möchte. Das chemische Recycling kann diesen Traum auch für Paul wahr werden lassen. Glaub weiter an dich, Paul. Du schaffst das.